Überschattet
Erzählungen über Demenz
(2024) Mabuse Verlag, Frankfurt am Main

In der autobiografischen Erzählung „Freunde“ lebt der eine mit der Diagnose Alzheimer, der andere beschäftigt sich beruflich mit Altersfragen. Die beiden Männer tun sich für ein Buchprojekt zusammen und wollen die Welt ein wenig „aufmischen“. Als die geistigen Fähigkeiten des einen immer mehr nachlassen, nimmt ein gemeinsamer Ausflug eine unerwartete Wendung und stellt die Beziehung der beiden Männer auf eine harte Probe.
„Der Stempel" erzählt von der 13-jährigen Mila. Ihr Leben ändert sich von einem auf den anderen Tag, als die Demenzdiagnose ihrer Mutter einen Sorgerechtsstreit auslöst. Die Aussicht, aus ihrer Familie herausgerissen zu werden, veranlasst Mila zu einem riskanten Schritt.
Zwei berührende Erzählungen über die Schatten, die Demenz auf Beziehungen werfen kann.
Textausschnitt (Freunde)
Ein gut gefüllter Raum in der Stadtbibliothek. Glaubenssätze. Mein Vortragsthema an diesem Abend. Wie man negative Glaubenssätze überwinden, sein Leben in eine gute Richtung verändern kann. Ich mag das Thema. Baue viele Beispiele in den Vortrag ein, von Menschen, die ich kenne oder kannte.
So auch von Christian. Als es notwendig wurde, hat er seine hinderlichen Glaubenssätze aufgespürt und sie überwunden.
Das Publikum an diesem Abend ist bunt gemischt, quer durch alle Altersgruppen. Viele Frauen, kaum Männer.
Ich nehme einen Schluck aus dem Wasserglas, setze es auf dem Rednerpult ab, werfe ein Lächeln ins Publikum.
Soweit also, sage ich. Ich bin gespannt auf Ihre Fragen.
Applaus, die Leiterin der Bibliothek kommt mit schlurfenden Schritten zu mir nach vorne. Sie bittet um Wortmeldungen. Verlegenes Schweigen, dann gehen die ersten Finger in die Höhe.
Sie haben mehrfach von einem Christian gesprochen, sagt eine junge Frau mit blaugefärbtem Haar. Wer ist dieser Christian?
Ich zögere einen kurzen Moment.
Er war wahrscheinlich mein Freund.
Böse Kinder
(2023) Kurzgeschichte

Sieben, sage ich leise. Noch siebenmal in einem weiten Bogen um meinen Hund herumwandern, dann habe ich unser tägliches Soll geschafft. Die Zeit, die ich für fünfzig größere oder kleinere Umkreisungen benötige, schenke ich Arco jeden Morgen für seinen liebsten Zeitvertreib: das Graben wadentiefer Löcher in den Sand des Flussufers. Er buddelt, ich ziehe Kreise.
Auf der anderen Flussseite tragen die Bergkuppen noch eine Schneehaube, doch der Himmel darüber verspricht einen schönen Frühlingstag. Ich bleibe stehen, schließe die Augen, halte mein Gesicht in die Sonne und fühle das Prickeln ihrer Wärme auf der Haut. Heute dürfen es gern auch einmal sechzig Runden werden.
Dann bemerke ich die beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen, er vielleicht zehn Jahre alt, sie ein wenig älter. Sie können noch nicht lange hier sein, das wäre mir aufgefallen. Das Mädchen sitzt in der Hocke und türmt Kieselsteine zu einem Haufen auf, während der Junge mit einem Ast Kreise um die entstehende Steinburg zieht. Arco schenkt den beiden keine Beachtung, nur wenige Meter von ihnen entfernt, erschafft er im Sand eine bizarre Kraterwelt. Die Kinder sind vollständig in ihre Beschäftigung vertieft, sie schauen nicht einmal auf, als ich nah an ihnen vorübergehe, und als ich mich nach wenigen Metern zu ihnen umdrehe, sind sie ein Stück näher an den konzentriert arbeitenden Hund herangerückt und lassen Sand durch ihre Hände rieseln.
Das ist ein komischer Mann, findest du nicht, höre ich den Jungen sagen...
Hymne an die Nacht
(2018) Essay

Hymne an die Nacht
Zur Rehabilitierung einer oft verkannten Macht
Zu den Dingen, denen man zweifelsfrei einen Doppelcharakter zusprechen muss, zählt etwas, was jeder von uns kennt: die Nacht! Während viele Menschen ihr durchaus Gutes abgewinnen können, ist sie für viele andere vor allem mit negativen Zuschreibungen verbunden. Dann ist sie unheimlich und macht Angst oder wird – wenn sie mit dem Schlaf verbunden ist –als verlorene Zeit empfunden, die davon abhält, das Leben in vollen Zügen auszukosten. Vermutlich werden die meisten Menschen auf die Frage, was sie als wichtiger ansehen, den Tag oder die dunkle Nacht, antworten: den Tag, das Licht, unter dem das eigentliche Leben stattfindet.
Am Anfang war es … dunkel!
Die Nacht hat in ihrer Geschichte unterschiedliche Bewertungen erfahren. Aber was heißt schon „in ihrer Geschichte“! Wenn Geschichte etwas wie einen Anfang benötigen sollte, dann hat die Nacht keine. Denn sie war vor aller Geschichte da. Davon spricht schon die Bibel. Denn als Gott sein Schöpfungswerk begann und die Welt schuf, war die Finsternis schon da. Erst später sprach er den berühmten Satz „Es werde Licht!“, schied das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. So berichtet es zumindest das Buch Mose, die Genesis. Gut zu wissen: Gott hat die Finsternis nicht etwa schnell einmal abgeschafft, sie ist geblieben, hat jetzt nur einen Namen – Nacht – und ein Gegenüber erhalten: das Licht.
Im Grunde kreisen alle alten Kosmogonien, also Erklärungsmodelle zur Entstehung der Welt, um den Gedanken, dass die Welt aus einer tiefen Dunkelheit entstanden ist. Die biblische Geschichte steht da nicht allein. Wer statt auf religiöse Erklärungsangebote eher auf die Erkenntnisse und Theorien von Physik und Astronomie setzt, kommt um die ursprüngliche Existenz der Dunkelheit ebenfalls nicht herum. Denn diese besagen, dass die Erde ursprünglich tatsächlich im tiefen Dunkel lag und es im Wesentlichen heute immer noch tut. Und es kommt noch dicker: Die dunkle Nacht, das Schwarz am Himmel – das kann vom Menschen ja noch erkannt werden, weil es atomare Materie ist. Jedoch: Das Universum besteht gerade einmal zu 5% aus atomarer Materie. Die restlichen 95% sind Dunkelmaterie oder Dunkelenergie, bleiben also unsichtbar.
Man sieht: Eine Geringschätzung von Nacht und Dunkelheit wäre töricht. Und die Überzeugung vieler Menschen, dass der Tag das sei, an dem das „eigentliche“ Leben stattfindet, ignoriert schlicht, dass die Welt als Dualität von Licht und Dunkelheit konzipiert ist. Das Treiben auf unserem Planeten spielt sich von jeher als stetiger Wechsel von Tag und Nacht ab. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.
Der Mensch kommt aus dem Dunkel in das Leben. Während religiös orientierte Menschen jedoch davon ausgehen, dass auf sie nach dem irdischen Leben ein ewiges Licht und Leben wartet, stellt sich die Situation für andere Menschen anders dar. Dann stellt der menschliche Auftritt auf dieser Erde nur ein kurzes Aufblitzen zwischen zwei Phasen der Dunkelheit dar. Also: Das Dunkle, die Nacht ist das Große, das Ursprüngliche und Ewige.
Während unserer irdischen Existenz üben wir in gewissem Sinne täglich schon einmal das Eintauchen in das Dunkle. Dann nämlich, wenn wir in den Schlaf hinabsinken. Das Licht, unser Bewusstsein, begibt sich dann in eine Sphäre, die für uns auch nach dem Wiedereintritt ins Wachleben des Tages dunkel bleibt. Die sich unserer Kontrolle entzieht. Genau aus diesem Grunde fürchten manche Menschen den Schlaf: Weil sie ihn als Kontrollverlust erleben. Und den hassen „moderne“ ratiofixierte Zeitgenossen nun einmal wie die Pest!
Angst vor der Nacht
Wer wie wir von ständigem Licht umgeben ist – man denke nur an die nächtliche Beleuchtung in unseren Städten – kann sich vermutlich kaum vorstellen, wie dunkel die Welt zu Zeiten des Mittelalters oder noch davor nächstens war. In der Regel war es stockfinster. Verständlich, wenn das Angst machen konnte. Denn man konnte beispielsweise nicht gut erkennen, ob und welche finsteren Gestalten die Dunkelheit für ihre Verbrechen ausnutzten. Heutzutage brauchen Verbrecher den Schutz der Dunkelheit natürlich nicht mehr so sehr. Sie begehen ihre Untaten lieber bei Tageshelle, zum Beispiel in den Büros von Banken und Konzernen. Doch seinerzeit war die Nacht eben auch aus Angst vor Verbrechen etwas vor allem zu Fürchtendes. Und es gab natürlich auch noch die vielen Geister, Hexen, Spukgestalten sowie den Teufel persönlich, die in der Dunkelheit ihr Unwesen trieben. Das Böse lauerte in der Nacht. Nicht zuletzt die christliche Religion, die sich als Lichtreligion verstand, schürte solche Ängste kräftig mit. Was die Entdeckung des Feuer(-machen)s für die Menschen der Frühzeit darstellte, war für die Menschen in späteren Dekaden vielleicht die Erfindung des Gaslichts und noch später der elektrischen Beleuchtung. Nun konnte man die Straßen in den Städten auch des Nächstens beleuchten, was das Sicherheitsgefühl natürlich verbesserte, und sich schließlich sogar das von Feuerstellen unabhängige Licht in die Wohnstätten holen. Die Angst vor der Nacht büßte so ihre bis dahin gewaltige Macht immer stärker ein. Dazu hatte auch vorher bereits eine Entwicklung beigetragen, die im Barock einsetzte und die man als „Nokturnalisierung“ bezeichnet. An den Höfen der Herrschenden kamen immer mehr rauschende nächtliche Feste in Mode, bei denen Tausende Kerzen und Kandelaber für strahlendes Licht sorgten und manchmal auch prächtige Feuerwerke den Himmel erhellten. Natürlich musste das gemeine Volk sich weiterhin in der Nacht von der tagsüber zu leistenden harten Arbeit erholen, doch der Weg zu einer Vernächtlichung des Tages war eingeschlagen worden. Im Prinzip ist daraus das uns heute bestens bekannte Nachtleben entstanden, denn auch das Bürgertum hatte irgendwann damit begonnen, sich die Nacht durch Konzerte, Theatervorführungen und Festlichkeiten aller Art zu erobern.
Die Königin der Nacht wird gemeuchelt
Und dann kam die Aufklärung. Diese verstand sich bekanntlich als Ausgang der Menschheit aus der Finsternis des Aberglaubens und des Nichtwissens. Das Licht der Vernunft sollte die Welt erhellen und keinen dunklen Flecken mehr auf dieser Welt zulassen. Beispielhaft kann man dies an einem großen Werk der Musikgeschichte studieren: der Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart. Es gibt vermutlich kaum jemanden, der nicht die Arie der Königin der Nacht kennen würde oder doch zumindest einmal von ihrer Existenz gehört hätte. Das Libretto, also der Operntext, hat es in sich. In ihm spielen zwei unterschiedliche Figuren eine zentrale Rolle: die Königin der Nacht und der Herrscher Sarastro, der für den Tag und das Licht der Vernunft steht. Dass vielleicht beide zwei Seiten eines Ganzen oder sich ergänzende Seinselemente sein könnten – das steht in der Oper nicht zur Debatte. Die Nacht ist das Böse und muss mit aller Gewalt und unter Einsatz verbrecherischer Mittel vernichtet werden. Am Ende steht der totale Sieg des Lichts der Vernunft. Die Vernunft hat mit diesem Sieg all das, was ihr unheimlich, weil nicht kontrollierbar, erscheint, ausgemerzt. Mit der „dunklen“ Seite des Menschen – Gefühle, Begierden, Intuition und mehr – kann die vernunftstrunkene Aufklärung nichts anfangen. Darum muss diese „dunkle“ Seite verschwinden. In der Philosophie haben Denker wie Hegel das Licht der Vernunft und dieselbe immer weiter voranschreiten gesehen – zumindest in ihrem Kopf. Licht und Tag waren jetzt gefragt, nicht Nacht und Dunkelheit! Es brauchte anderer Denker, zum Beispiel eines Arthur Schopenhauers, eines Friedrich Nietzsches oder eines Sigmund Freuds, um den Menschen wieder zu erden, ihm seine Sinnlichkeit, seine irrationale Seite, seine Leiblichkeit und seine unbewussten Anteile zurückzugeben. Man könnte auch sagen: Der Mensch wurde wieder ganz. Licht und Dunkelheit, Sarastro und Königin der Nacht: Nur in dieser Dualität ist der wirkliche Mensch zu haben!
Oden der Romantik
Geschichte, Kultur, Geistesdenken: Sie verlaufen nicht gradlinig, schon gar nicht auf ein definiertes Ziel hin. Und so kann es nicht verwundern, dass die Romantik sozusagen als Antwort auf die Aufklärung der Nacht wieder großen Respekt erwies. Die dunkle Seite der Welt und des Ichs übten eine große Faszination auf die romantischen Künstler, vor allem die Dichter aus. Die Nacht wurde zum Projektionsraum einer schier unerschöpflichen Fantasie. Träume, Ahnungen, Sehnsuchtsmotive spielen darin eine zentrale Rolle. Der Mensch wird nicht allein als Vernunftwesen, sondern auch als Gefühlswesen gewürdigt. Auch seine irrationalen, seine dunklen und verborgenen Seiten gehören zu ihm.
„Muss immer der Morgen wiederkommen? Endet nie des Irdischen Gewalt? unselige (sic!) Geschäftsfähigkeit verzehrt den himmlischen Anflug der Nacht. Wird nie der Liebe geheimes Opfer brennen? Zugemessen war dem Licht seine Zeit; aber zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft. – Ewig ist die Dauer des Schlafs“ (Novalis: Hymnen an die Nacht. Köln 2006).
Mag die Romantik auch oftmals pure Weltflucht bedeutet haben: Für ihre Rehabilitierung der „dunklen“ Seiten des Seins und der Menschen, der Nacht, sind wir ihr zu großer Dankbarkeit verpflichtet.
Und heute?
Die Nacht ist sicherlich heute nicht mehr so angstbesetzt, wie sie es zu anderen Zeiten war. In der Wertschätzung dürfte sie bei den meisten Menschen dennoch kaum mit dem Tag mithalten können. Die Nacht und das Dunkel sind, wie ich gezeigt habe, das Ursprüngliche, Mächtige, Ewige aus dem wir stammen und zu dem wir zurückkehren werden. Und auch für unseren Zwischenaufenthalt auf der Erde sollten wir seine positiven Seiten erkennen und nutzen. Sicher: Viele Menschen hassen die Nacht, weil sie in ihr nicht zur Ruhe kommen können, weil sich in ihre Träume böse Gedanken, schmerzliche Erinnerungen, Ängste drängen. Die Nacht stellt aber auch den Raum dar, in dem die Menschen Ruhe und Frieden finden können – eben vor solchen Gedanken und den Bedrängnissen des Alltags. Viele Menschen, zu denen auch der Autor gehört, wissen von der fast magischen Fähigkeit der Nacht und des Schlafs zu berichten, eine von ihnen nicht kontrollierbare Ebene der Kreativität zu erschließen, in der ohne ihr Zutun plötzlich Lösungen für Probleme anschwemmen, überraschende Ideen aufblitzen, sich neue Tore öffnen. Dinge, die im lauten, hellen und geschäftigen Alltag keine Chance haben, sich zu zeigen. Die Nacht ist eine heilige Zeit. Ich glaube an Nächte.
Literatur
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Bronfen, Elisabeth: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. München 2008.
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Fischer, Ernst Peter: Durch die Nacht. Eine Naturgeschichte der Dunkelheit. München 2015.
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Seitter, Walter: Geschichte der Nacht. Berlin und Bodenheim 1999.
Erschienen in: demenz DAS MAGAZIN | 38 · 2018